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Aus der Dunkelheit zur Verklärung

Russische Glaubenswege

15.01.2013

vater georgij kotschetkov | ekaterina poljakova

Aus der Dunkelheit zur Verklärung

Russische Glaubenswege

Seit ihren Anfängen berät Ekaterina Poljakova, Philosophin aus Russland,  die F u g e  im Feld von Philosophie und Religion und lenkt dabei die Aufmerksamkeit immer wieder mit eigenen Beiträgen, Übersetzungen oder Hinweisen auf Autoren ihrer Heimat. Im März traf die kürzlich an der Universität Greifswald mit einer Arbeit über Nietzsche habilitierte Katholikin den Rektor des christlich-orthodoxen Sankt Philaretos Institutes, Vater Georgij Kotschetkov, zum Gespräch in Moskau. Das Gespräch wird – eingeleitet durch Überlegungen Poljakovas – hier und in Fortsetzung in der nächsten Ausgabe der F u g e  dokumentiert. Der zweite Teil in Band 12 der F u g e  (März 2013) wird unter dem Titel  A u s  d e r  D u n k e l h e i t  z u r  V e r k l ä r u n g (II):  c o m m u n i o  f i d e i erscheinen.

Vater Georgij Kotschetkov (Jurij Seraphimowitch Kotschetkov) ist Rektor des orthodox-christlichen Sankt Philaretos Instituts in Moskau, Doktor der Theologie (promoviert am Saint-Serge Institut für Theologie in Paris), Professor, Lehrstuhlinhaber für Missiologie, Katechetik und Homiletik sowie der geistige Leiter und Betreuer der sogenannten Preobrazhenski Gemeinschaft der kleinen Bruderschaften. Er verfasste zahlreiche Bücher und Aufsätze. Im Jahr 2010 erschien seine siebenbändige Übersetzung der liturgischen Texte der orthodoxen Kirche in die moderne russische Sprache. Dank seines Systems der Katechese wurden ungefähr 15 000 Menschen zu orthodoxen Christen. Soweit zu seiner gegenwärtigen Position.

Die Vergangenheit sah weniger glatt aus. Überhaupt nicht glatt. Geboren im Jahr 1950, kommt der zukünftige Priester und geistige Betreuer von mehreren Tausenden Menschen erst Ende 1960er Jahren zum orthodoxen Glauben. Zu dieser Zeit trifft er Vater Wsewolod Spiller, Vater Witalij Borowoj, Vater Taurion Batozskij und Vater Ioann Krestjankin – Menschen, die in dunklen Zeiten die innere Freiheit bewahrten, selbst zum Licht für die anderen werden konnten und von denen er vierzig Jahre später mit großer Wärme und Dankbarkeit sprechen wird. Sie haben ihm gezeigt, was es bedeutet, Christ zu sein, und vielleicht noch wichtiger – was es bedeutet, Mensch zu sein.

Im Jahr 1968, kurz nach seiner Taufe und parallel zum Beginn seiner kirchlich-katechetischen Arbeit, begann Vater Georgij ein Wirtschaftsstudium an einem der renommiertesten Institute des Landes; später folgte ein Doktoratsstudium an der Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 1980 tritt Kotschetkov in die Leningrader Geistliche Akademie ein und besteht extern alle Prüfungen, die zum Vorstudium am Seminarium gehören. 1983 wird er vom Erzbischof von Vyborg (dem heutigen Patriarchen Kirill) zum Diakon geweiht und kann seine katechetische Tätigkeit somit offiziell ausüben. Er bekommt sogar ein Patriarchenstipendium – die Auszeichnung für die besten Studenten der Geistlichen Akademie. Doch so einfach sollte es nicht bleiben. Kurz nach seiner Diakonweihe muss er sein Doktoratsstudium an der Akademie der Wissenschaften abbrechen. Der Grund ist klar: Er sei, heißt es, an religiöser Propaganda beteiligt gewesen, und das gilt als unvereinbar mit dem Status des sowjetischen Wissenschaftlers. Von nun an kann der ehemalige Doktorand der Akademie der Wissenschaften nur noch als einfacher Buchhalter seinen Lebensunterhalt verdienen, die vielversprechende Karriere in den Wissenschaften ist zu Ende.

Man könnte nun meinen, eine Karriere in der Kirche habe ihm stattdessen offen gestanden. Doch wer das vermutet, kennt nicht die Lage der russischen orthodoxen Kirche am Ende der sowjetischen Zeit. Auch die Geistliche Akademie kann der junge Katechet ohne eine Erlaubnis der staatlichen Behörden nicht absolvieren; nicht einmal als Diakon darf er seine Dienste erfüllen, allenfalls heimlich und ohne offizielle Erlaubnis, nicht zu reden von der Priesterweihe, die auf direkte Forderung der Geheimdienste hin verschoben werden muss. Erst 1990, also sieben Jahre später, darf der begabte Theologiestudent, inzwischen vierzig Jahre alt, sein Studium an der Geistigen Akademie beenden. 1989 wird er zum Priester (Presbyter) geweiht.

Die Schwierigkeiten kommen nicht nur von den Behörden, und sie enden auch nicht mit der Sowjetzeit, wie man es vielleicht erwarten könnte. Kirche und Staat stehen sich in dieser Phase nicht bloß feindlich gegenüber: Schon seit der späten Zeit Stalins wird die Kirche nicht nur verfolgt, sondern auch von innen her korrumpiert. Verfolger können die eigenen Brüder, geistige Begleiter sein, ja die geistlichen Vorgesetzten. Dies zu erleben, mag für Vater Georgij vielleicht schlimmer gewesen sein als die Exmatrikulation im letzten Studienjahr. Hieran nicht zu verzweifeln – nicht wegzugehen, sich nicht verstecken zu wollen –, das erforderte einen Mut und eine innere Kraft, zu der man sich nicht einfach selbst erziehen, sondern die man nur aus dem Glauben schöpfen kann – jenem Glauben und der Gemeinschaft im tiefen Sinne des Wortes, die mit dem lateinischen Wort communio oder mit dem griechischen Wort κοινονία zu beschreiben ist. „Credo in sanctorum communionem.“

Jemand hat einmal gesagt, man könne niemals Christ werden, bis man einen (echten) Christen trifft. Vater Georgij hatte Glück. Er traf solche Christen, und er verstand: Einem (echten) Christen zu begegnen, ist Gnade in einem Maße, dass es alle schlechten Erfahrungen, alle Enttäuschungen und selbst die Verzweiflung aufhebt und wiedergutmachen kann. Denn was sind schon Hunderte oder sogar Tausende Scheingläubige, was Verräter und Verfolger gegen einen Heiligen? Bloß eine Menge von unglücklichen, verirrten Menschen, die bitterlich dessen Glaubenszeugnis brauchen.

Im Jahr 1988, noch heimlich, begründet Vater Georgij sein Institut und im Sommer 1990, am Hochfest der Verklärung des Herrn (dem 19. August nach russisch-orthodoxem Kalender), die Preobrazhenski-Bruderschaft. Das Wort „Preobrazhenije“ bedeutet im Russischen „Verklärung“. Es handelte sich also um eine Verklärungsbruderschaft, eine Bruderschaft der Verklärten – und man darf das Prophetische dieses Ereignisses nicht unerwähnt lassen: Genau ein Jahr später, am Tag der Verklärung 1991, wird Russland sich verwandeln. Die bösen Geister, von denen auch in diesem Gespräch die Rede ist und an denen große russische Philosophen wie Nikolaj Berdjaew verzweifelten, werden noch einmal die Macht ergreifen und sich dabei gewaltig vergreifen. Der Militärputsch in Moskau (19. bis 21. August 1991) wird scheitern und Boris Jelzin – der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands – wird auf einen Panzer steigen und tausenden Menschen direkt ins Herz sprechen: „Dieses Regime hat keine Zukunft. Wir werden diese Willkür und Gesetzlosigkeit nicht länger dulden.“ Viele haben danach gesagt, dies sei die Verklärung Russlands gewesen. Aber kann ein Land in drei Tagen verwandelt werden? Ja und nein! Es war der Anfang, doch das letzte Wort ist immer noch nicht gesprochen. Kann es überhaupt von Menschen ausgesprochen werden?

Ich nenne im Folgenden nur noch einige Fakten: Im Jahr 1993 wird Vater Georgij mit seiner Gemeinde aus der Vladimir-Kathedrale vom Sretinskij-Kloster vertrieben. Und noch einige Jahre später wird er in einer dunklen Geschichte (dazu gehörten Provokation, Erpressung und am Ende auch direkte Verleumdungen) an seinem Priesterdienst gehindert. Doch dank der Unterstützung seiner Gemeinde, dank der Geduld, der Hoffnung und dem Vertrauen, das die Gemeinschaft zusammenhielt, übersteht er auch diese neuen Verfolgungen. Heute dankt man Gott dafür, dass das Institut die staatliche und kirchliche Anerkennung schließlich bekommen hat, dass Vater Georgij Gottesdienste halten darf und dies sogar in der modernen russischen Sprache und nicht in der altslawischen – eine extreme Seltenheit. Zu seiner informellen Bruderschaft gehören berühmte Intellektuelle (wie einer der in Russland renommiertesten Philologen Sergej Awerinzew und die ebenso berühmte Dichterin Olga Sedakowa), denen die russisch-orthodoxe Kirche, ungeachtet aller Schwierigkeiten, zur Heimat geworden ist. Sie wissen: Die Heimat muss nicht unbedingt schön sein, und es ist keine moralische Pflicht, sie immer gut zu heißen. Ja: Liebe zur Heimat bedeutet manchmal Schmerz und das nüchterne Eingeständnis, dass man keinen Grund hat, stolz zu sein. Doch eben deshalb kann man die eigene Heimat nicht einfach Anderen überlassen. Man will sie mitgestalten, will um sie kämpfen – um ihre Zukunft, um einen Ausweg aus dunkler Vergangenheit, um ihre Verklärung. Und dies fängt bei jedem selbst an. Denn um ein Licht für die Welt zu sein, müssen wir es zunächst selbst werden. Wir müssen das Feuer des Glaubens in uns entzünden lassen. Und wenn wir Vater Georgij glauben dürfen, gibt es keinen einzigen Menschen auf Erden, der dieses Feuer nicht besitzt – wenn auch nur als Funken.

Das Gespräch fand im März dieses Jahres statt – in der Zeit der politischen Unruhe, der Demonstrationen, der Wahlen, der Skandale um die Kirche und um deren Führung. Es war meine Absicht, nicht über die brennenden politischen Fragen, nicht über die aktuellen Ereignisse zu sprechen, insbesondere nicht über jene Themen, die einem orthodoxen Christen heutzutage peinlich sein müssen. Indirekt jedoch ging es, wie man leicht merken kann, stets um Russland: um die russische Vergangenheit und um die Gegenwart des Landes. Aber auch in dem, was die russischen Probleme angeht, ging es uns beiden, Vater Georgij und mir, nicht bloß um Russland und nicht einmal nur um die russische Kirche, sondern um Fragen, die sehr alt, aber auch immer wieder neu sind: Sie betreffen die menschliche Existenz, ihre Brüche und Aufstiege, ihre Grundlagen und die Gefahren, denen sie ausgesetzt ist, und natürlich die Hoffnung, die sie trägt, die Kraft, die uns allen Leben spendet. Leider ist es unmöglich, die lebendige Strahlung, die innere Kraft, die ganze charismatische Wirkung von Vater Georgij in einer Publikation wiederzugeben. Das lebendige Gespräch kann nichts ersetzen. Doch wenn es tatsächlich stimmt, dass communio auch über die Jahrtausende hinweg wirken kann, dass nichts das lebendige Licht auslöschen kann, das einmal in dieser Welt geleuchtet hat, und dass, um es noch einmal anders zu sagen, unsere Hoffnung, in diese communio sanctorum einmal lebend einzutreten, nicht umsonst ist, dann darf auch ich hoffen, dass dieses Gespräch – trotz oder gerade wegen seiner anderen, fremden Sicht auf bestimmte Probleme – den suchenden Menschen in Deutschland eine Hilfe sein kann. Mir selbst hat das Gespräch sehr geholfen. Es hat mir nicht bloß einige neue Einsichten vermittelt, sondern es hat mir vielmehr gezeigt, was ein Gespräch sein kann – ein Teil der communio, das wir alle wollen, das wir eigentlich über alles wollen.

Ekaterina Poljakova, Greifswald

 

***

poljakova: Vater Georgij, vielen Dank, dass Sie für dieses Gespräch zur Verfügung stehen.

kotschetkov: Gerne, und lassen Sie uns tatsächlich versuchen, miteinander zu reden. Auch wir sind hier sehr daran interessiert, echte Gespräche zu führen, da es an Gelegenheiten mangelt, die ernsthaften und interessanten Fragen zu erörtern. Mehr noch: Im modernen Russland gibt es sie einfach nicht. Es ist ja vielleicht verständlich, dass es hierfür zur Sowjetzeit keine Möglichkeiten gab, aber das war eine völlig andere, eine besondere Situation. Doch jetzt, zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, hat sich noch immer kein Raum für derartige Diskussionen gebildet. Es kommen allerdings erste Knospen: Da haben plötzlich ein oder zwei Menschen ein gemeinsames Interesse an der geistlichen und geisteswissenschaftlichen Sphäre, auf wissenschaftlichem und auf existentiellem Gebiet. Und was mir besonders gefällt: Die Menschen fühlen sich jetzt zueinander hingezogen, orientieren sich aneinander. Im Internet wird das sichtbar, und auch in den Angeboten, die uns in allerjüngster Zeit gemacht werden. Die Menschen wollen sich vereinigen, um etwas gemeinsam und frei zu gestalten, auch auf dem christlichen Gebiet – und das war lange nicht der Fall! Ehrlich gesagt gab es dazu weder die Kraft noch die Möglichkeiten oder die Neigung, und jetzt, wo Neigung und Lust sich entwickeln, bleibt es fraglich, ob die Kraft und die Möglichkeiten ausreichen. Man wird sehen.

poljakova: Es wäre gut, wenn Sie am Anfang ein paar Worte zur Preobrashenskij-Bruderschaft und zum Institut sagen würden: Wie entstand die Idee dazu, und wie verbreitet ist es in der orthodoxen Kirche, sich auf eine solche Art zusammenzuschließen?

kotschetkov: Ich denke, dass alles, was heute in der Russisch-Orthodoxen Kirche und überhaupt im postsowjetischen Gebiet vor sich geht und entsteht, den Traditionen in gewissem Sinne nicht entspricht, nicht entsprechen kann. Der Bruch, der sich im 20. Jahrhundert ereignete, ist so ernsthaft und tief gewesen, dass mit einer vollständigen Wiederaufnahme der Tradition nicht mehr zu rechnen ist. Deshalb kann heute nur zweierlei passieren: Entweder wir unternehmen etwas mit Qualität, und dann finden wir auch Fäden in der christlichen Tradition Russlands, die wir aufnehmen können, oder aber wir machen etwas Anderes, weniger Gehaltvolles, und dann werden wir der Tradition kaum genügen.

In der Vergangenheit gab es ein eigenes System, in dem die religiöse Bildung vermittelt wurde: ein kirchliches wie auch öffentliches, geisteswissenschaftliches; schon im 16. Jahrhundert existierten unzählige Bruderschaften im Gebiet des heutigen Russlands, der Ukraine, Weißrusslands und sogar Litauens, und dies war seinerzeit auch eine sehr wichtige Form der Organisation des kirchlichen Lebens, wenn dieses auch oft unter Spannungen und Unklarheiten litt, die sich im Rahmen des Entstehens der Kirchenunion (Vertrag von Brest, 1593) ergeben hatten. Das alles wirkt bis heute nach. Im 18. Jahrhundert starb die Bewegung der Bruderschaften dann nach und nach völlig aus, sowohl in der Russisch-Orthodoxen Kirche als auch in den anderen orthodoxen Kirchen. Doch in der Mitte des 19. Jahrhunderts ereignet sich plötzlich ihre Wiederauferstehung, beginnend in St. Petersburg. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es in der russischen Kirche wieder um die 150 Bruderschaften. Um die Wahrheit zu sagen, trugen die meisten oft einen etwas speziellen, eng umrissenen funktionalen Charakter, aber nicht alle. Es gab erste Versuche, das kirchliche Leben an sich neu zu organisieren – ein für unser Land und unsere Tradition ungeheuer bedeutsamer Schritt. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Dialog Puschkins mit dem jungen Khomyakov, in dem Khomyakov zu Puschkin über die großen Vorteile der Orthodoxie im Vergleich zum westlichen Christentum spricht. Puschkin aber antwortete, er könne die Vor- und Nachteile des westlichen Christentums nicht beurteilen, wisse aber, dass es in den westlichen Kirchen die Bewegungen der Bruderschaften gäbe, die in Russland sehr fehlten.[1] Dieses Gespräch fand Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts statt, und schon in den fünfziger Jahren gründete sich dann die erste Bruderschaft. Wirklich, sie hat uns sehr gefehlt – schon immer fehlte uns diese menschliche Dimension.

Um auf das Thema zurückzukommen: Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Bruderschaften, die nun neue Akzente im innerkirchlichen Leben setzten: die der Bedeutung von Hierarchie nachgingen und die versuchten, den beamtenhaften Anstrich abzuschaffen, der natürlich im „Ministerium für den orthodoxen Glauben“ des Russischen Imperiums existierte. Das war eine große Sache! So darf man behaupten, dass der Name Nikolaj Nikolaevich Neplyuev breiten Kreisen in Russland bekannt war.[2] Über ihn schrieben die größten Denker der Zeit – Berdjajew, Bulgakow, Florenski, und diese Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen. Und es ist auch bekannt, dass sich nach dem Oktoberumsturz 1917 die Bewegung der Bruder- und Schwesternschaften sehr stark in der Kirche entwickelte und der Heilige Synod erstmals grünes Licht zu dieser Entwicklung gab! Das heißt, der Synod unterstützte diese Bewegung in jeglicher Hinsicht, weil er sah, dass keine staatlichen Strukturen mehr in der Lage waren, der Kirche zu helfen. Leider zu spät! Wäre dies früher geschehen – wer weiß? Vielleicht wäre eine Macht aus dem Volk zur Unterstützung der Kirche entstanden, die niemals zugelassen hätte, dass die Kirche, das Land, das Volk ins Elend gestürzt wäre. Leider gelang es nicht, eine solche Kraft zu entwickeln, wie es auch nicht gelang, die Entscheidungen des Heiligen Synods von 1917–1918[3] umzusetzen. Die Bolschewiki waren zu fanatisch und zu schnell. Voller Energie nahmen sie sich der Aufgabe an, die Kirche zu zerstören. Und die Bruderschaften hielten bis zum Ende durch. Die Sowjets kämpften mit aller Macht gegen sie, worunter nicht nur die Geistlichkeit litt, sondern auch alle gottesfürchtigen und kirchentreuen Menschen. In erster Linie aber betraf es natürlich die Brüder, nicht nur Priester, sondern auch Laien.

Deshalb stehen wir in einem gewissen Sinne in dieser Tradition, setzen sie fort. Und deshalb orientieren wir uns auch vor allem an jenen Traditionen der geistlichen Bildung, welche damals in der Kirche bestanden. So entstand unser Institut. Aber man muss dazu sagen, dass dieses Institut seine Arbeit schon vor Ende der Sowjetzeit aufnahm, im Juli 1988, als man am Telefon noch nicht davon zu sprechen wagte, dass ein derartiges Theologisches Institut existiert. Das war noch streng verboten! Obwohl Gorbatschow damals schon an der Macht war, hatte sich im Verhältnis des Staates zur Kirche noch nichts geändert, und bis zum Jahre 1990 arbeiteten wir vom Institut im Untergrund. 1990 konnten wir unsere Existenz dann rechtskräftig durchsetzen.

Natürlich war die Eröffnung des Instituts ein Ergebnis von mehrjährigen Vorarbeiten, und sie erfolgte zu einer Zeit, als noch niemand ein Ende der kommunistischen Sowjetherrschaft auch nur erahnen konnte. Ich persönlich wollte vor allem das Beste aus dem öffentlichen System (der staatlichen Bildung) und dem geistlichen System in Russland zusammenbringen – aktuell und in der Geschichte, und auch das, was jetzt in Westeuropa sowohl innerhalb der Orthodoxie als auch außerhalb ihrer existiert. In der Orthodoxie orientierten wir uns an der Erfahrung des Institut de Théologie Orthodoxe Saint-Serge in Paris und natürlich auch des St. Wladimir’s Orthodox Theological Seminary, das unweit von New York arbeitet. Wir hatten immer viele Freunde in der katholischen Welt, und auch unter den Protestanten kannten wir den einen oder anderen. Wir begriffen, welche Errungenschaften es sowohl in der westlichen Kultur als auch in der Kirche im Bildungsbereich gibt und berücksichtigten dies alles bei der Gründung unseres Instituts.

Von Anfang an orientierten wir uns an der Hochschulbildung. Es gab zu jener Zeit bei uns nämlich noch keine nicht-universitäre Ausbildung in Religion oder Theologie, wohl aber eine sehr ausgeprägte Katechetik. Für Erwachsene dauerte die Katechese 1 bis 1 1/2 Jahre (wir unterrichteten ausschließlich Erwachsene), und mehr als 20.000 Menschen durchliefen diesen Prozess bisher. Katechese bedeutet dabei Unterweisung im Glauben, mehr als bloß Wissensvermittlung. Und so war die Katechese auch weniger eine Schule, sondern eher eine Unterweisung für den Lebensweg. Natürlich gab es Bildungselemente, aber wir bezeichnen die Katechese auch als Lehren (НАУЧЕНИЕ), nicht als Ausbilden (ОБУЧЕНИЕ).

Heute gibt es an unserem Institut neben der katechetischen Arbeit bereits zwei Fakultäten der Hochschulbildung, die theologische und eine religionswissenschaftliche Fakultät (Religious Studies). Überdies bieten wir unterschiedliche Formen der beruflichen Fort- und Weiterbildung an. Auch wenn das Institut nicht sehr groß ist, ist es nach westlichen Maßstäben schon eine kleine Universität: im Bachelorstudiengang studieren mehr als 260 Studenten an der theologischen Fakultät und ungefähr 50 an der kürzlich eröffneten religionswissenschaftlichen Fakultät, dazu kommen noch die Studenten im (bisher kleinen) Masterstudiengang – insgesamt also mehr als 300 Menschen.

Was die Geschichte der Preobraschenskij-Bruderschaft anbelangt, so lassen wir sie mit der ersten Versammlung der etwa hundert Brüder, die am Verklärungstag (Preobrashenije, 6. August) des Jahres 1990 stattfand, beginnen. Ringsum herrschte noch die Sowjetmacht, und so musste diese Versammlung inoffiziell durchgeführt werden, in der Nähe von Moskau – bedroht von der Angst vor Verhaftung und anderen Verfolgungsmaßnahmen. Aber genau in diesem Moment der Geschichte begann unsere Bruderschaft zu existieren. Wir fühlten das am Geist und am Verhältnis, das zwischen den Teilnehmern dieses Treffens herrschte. Wir wussten seinerzeit nicht viel von der Tradition der Bruderschaften, und heute, nach fast 25 Jahren des Forschens, wissen wir ein wenig mehr. Natürlich entstand die große Preobraschenskij-Bruderschaft nicht an dem einen Tag. Sie ist auch nicht das Ergebnis eines Jahres, sondern von mehreren Jahrzehnten, in denen wir die Menschen versammelten, Katechese betrieben. Viele, die zu uns kamen, hatten ja keinerlei Vorwissen, waren häufig Ungetaufte, aus Familien ohne religiöse Tradition, aus nicht-orthodoxen Familien. Aber welche Tradition und welches Vorwissen hätte man in jener Zeit denn erwarten können? Es war doch nichts übrig geblieben. Selbst in den Priesterfamilien war es nicht leicht, eine echte geistliche und kulturelle Tradition zu finden.

Heute ist unsere Bruderschaft in vielen großen Städten präsent, in vielen Regionen des Landes gibt es Mitglieder unserer Bruderschaft. In einigen Städten gibt es bereits selbstständige Bruderschaften. Unsere Preobrashenskij-Bruderschaft ist eine Gemeinschaft, die aus ungefähr fünfundzwanzig kleineren Bruderschaften besteht. Kleine Bruderschaften – das sind Bruderschaften, die ungefähr hundert Menschen vereinigen, Kinder und Jugendliche nicht miteingerechnet. Insofern haben wir in unserer Bruderschaft ungefähr 3000 Menschen, vielleicht sogar etwas mehr. Mitglieder unserer Bruderschaft gibt es auch in anderen Ländern, vor allem in der GUS, aber auch über sie hinaus. Einige wohnen in westlichen Ländern, doch meistens handelt es sich dabei um Leute, die aus Russland stammen. So viel zur Geschichte.

poljakova: Ja, lassen Sie uns einen Schritt in die Gegenwart versuchen: Im heutigen Deutschland ist die Beziehung zur Institution Kirche für die Gläubigen ein sehr ernsthaftes Problem. Man denke zum Beispiel nur an das Verhalten einiger katholischer Priester, die in den Skandal um den Missbrauch von Kindern verwickelt sind. Es scheint oft so, als sei die Kirche nicht Zeugin des Glaubens, sondern selbst ein Stein des Anstoßes. Hunderttausende Menschen treten in Deutschland aus der Kirche aus. Wahrscheinlich gibt es auch in Russland ähnliche Probleme. So stößt viele Menschen das Verhältnis der Kirche zum Staat ab. Die Menschen, für die jenes eine Versuchung darstellt, kann man verstehen. Sie selbst, Vater Georgij, haben in einem Interview den Ausdruck „Kampf um die Kirche“ gebraucht. Könnten Sie erklären, was Sie damit meinen?

kotschetkov: Um diesen Ausdruck zu erklären, müssen wir uns wieder daran erinnern, dass die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert eine schreckliche und tragische Geschichte ist, die Geschichte der völligen Zerstörung des Volkes, der Kultur, des Landes, der Kirche, der Tradition und einfach alles Lebendigen, das es einst auf dieser Erde gab. Viele Völker – die Menschen in West- und Mitteleuropa, auch in Deutschland, haben sehr unter den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelitten. Doch was in Russland geschah, war vielleicht noch schrecklicher, weil es den Erfahrungen in Europa zwar ähnlich war, aber viel länger dauerte: 75 Jahre, in denen die Menschen in ständiger Angst gefangen waren – und das war gewissermaßen noch das Geringste, betraf diejenigen, die zumindest überlebten und in der Lage waren, eine gewisse Form des Menschseins zu bewahren.

Von daher ist der Kampf um die Kirche ein Kampf sowohl um das Äußere als auch um das Innere. Denn alles wurde zerstört. Ich kann nicht sagen, dass unser Land heute wiederauflebt, dass die Kirche und der Staat nun reanimiert worden sind. Das ist noch nicht Russland, aber auch nicht mehr die Sowjetunion, es ist ein sozusagen post-sowjetisches Zwischenstadium, ein bestimmtes Territorium mit einer bestimmten Bevölkerung, mit unverständlichen Wesenszügen und Widersprüchen. In unserem Land gibt es freilich hervorragende Menschen, das lässt sich nicht bestreiten. Sowohl unter den Jugendlichen als auch unter der Intelligenz – in jedem Milieu kann man hervorragende Menschen finden. Aber das Problem ist, dass unser Land immer noch nicht angemessen geformt ist, nicht nur im institutionellen Sinne, auch im Inneren ist es noch immer sehr instabil und widersprüchlich. Es blüht einstweilen ein eklektisches Sammelsurium: Die Menschen nehmen sich etwas aus der Vergangenheit, etwas aus irgendwelchen anderen Kulturen oder geistigen Schichten, und auch wenn manche dieses merkwürdige Nebeneinander meistern, ist es doch insgesamt unmöglich, hieraus etwas für die Allgemeinheit zu lernen. Ich denke, es wird eine geraume Zeit dauern, bis eine haltbare Gestalt gefunden ist.

Doch dieser historische Prozess braucht Hilfe. Von wem könnte diese Hilfe kommen? Nur von jenen, die diese fehlenden Qualitäten in sich selbst zu gewinnen suchen. Beginne mit dir selbst – das ist die erste Regel, die es in der orthodoxen Kirche gibt. Wenn du nichts mit dir anfangen kannst, wie kannst du dann Anderen helfen? Nun gibt es aber auch eine weitere Erfahrung, die im Aphorismus so ausgedrückt wird: Lehre Andere, lerne dadurch selbst. Und das scheint auch wahr zu sein, wir erleben es im Institut ja selbst. Von daher ist der Kampf um die Kirche ein grundlegendes Thema für uns.

Für uns geht es nicht nur um die Suche nach der inneren und äußeren Freiheit, nicht bloß um die mögliche Wiederkehr der hierarchisch geordneten Ziele und Werte im Leben eines Menschen; auch nicht nur um die Aneignung der natürlichen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen, „gesunder“ Beziehungen im Sinne des Evangeliums, des Christentums, nicht nur einer allgemeinmenschlichen humanen Weltanschauung. All das ist auch sehr wichtig, aber doch eine andere Aufgabe. Und obwohl ohne Zweifel alles mit allem zusammenhängt, setzen wir allgemeinmenschliche und kirchliche Aufgaben nicht gleich.

Der Kampf um die Kirche ist so in erster Linie der Kampf um den würdigen Ausdruck, damit das Wort Christi sich realisieren kann.

Was wir unbedingt tun müssen, ist, Schlussfolgerungen aus dem zu ziehen, was im 20. Jahrhundert geschehen ist! Das wurde bisher nicht hinreichend getan. Weder das Volk noch die Kirche haben für die Sünden des 20. Jahrhunderts – furchtbare und schreckliche Sünden, sowohl im eigenen Land als auch in der ganzen Welt – Reue gezeigt. Dabei hat, was in unserem Land im 20. Jahrhundert geschah, globale Bedeutung, und so sollten Reue und Buße ebenso stark sein. Selbst jene, die nicht sündigten, die weder mit dem staatlichen Unterdrückungsapparat kooperierten noch mit den Straforganen zusammenarbeiteten, jene, die ihre Mitmenschen nicht verraten und auch nicht denunziert haben – auch sie sollten tätige Reue üben und Buße tun, weil wir alle diese verbrecherische, diese furchtbare Luft geatmet haben. Wir sind bisweilen, ohne es zu ahnen, Träger von etwas, das aus dieser schrecklichen, kranken, verpesteten Atmosphäre, aus der Atmosphäre der roten Pest zu uns gekommen ist. Deshalb ist der Kampf um die Kirche nach wie vor sehr aktuell. Ich selbst habe über diese Frage schon Mitte der siebziger Jahre gearbeitet und habe in einem Artikel, der im Jahre 1979 in Paris im Bulletin der Russischen christlichen Bewegung veröffentlicht wurde, formuliert, wie sich dies, orientiert an den Bedingungen des sowjetischen Lebens, darstellte.[4] Aber auch heute, nach dem Zusammenbruch der Sowjetmacht, im postsowjetischen Zwischenstadium, sind viele der damaligen Überlegungen noch aktuell.

Dabei sollten wir ein tiefes Verständnis dafür haben, dass man im Christentum eben nicht sagen kann: Einer ist keiner. Wir empfinden uns überhaupt nicht als Titanen oder Genies – nein, wir verstehen sehr gut, dass wir einfache Menschen sind –, aber wir glauben daran, dass auch ein Mensch allein das Feld behaupten kann. Wenn der Herr hilft, wenn wir Gott treu sind, wenn wir der Kirche treu sind, wenn wir einander treu sind, wenn wir der Stimme des Gewissens treu sind, so können wir die Hoffnung auf diese Wiedergeburt haben. Und dann wird der Kampf um die Kirche fruchtbringend sein.

poljakova: Für das westliche Bewusstsein klingt dieses Ein Mann allein kann das Feld behaupten eher wie ein Aufruf, die Kirche zu verlassen. Wozu brauche ich sie denn? Die Menschen gehen gerade deswegen weg, weil sie denken, dass die Kirche eine Organisation ist – man begreift die Kirche als Organisation –, die eher stört, als dass sie hilft, zu Gott zu kommen.

kotschetkov: Stört sie denn nicht? – Ja, natürlich stört sie! Aber wir verstehen sehr gut: Wenn man jetzt die Kirche beseitigen würde, sogar in ihrer gegenwärtigen und wenig beneidenswerten Lage – was würde dann passieren? Man kann unsere Kirche jetzt noch nicht als wiedergeboren und erneuert bezeichnen, als eine Kirche, die alle Schlussfolgerungen aus den Lehren der Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen hat, aber wir verstehen doch, dass wenn man jetzt die Kirche beseitigte, alles sehr chaotisch zuginge. Man weiß doch, dass die Kirche, wie immer sie auch sein mag, den Menschen Gelegenheiten gibt, sich zusammenzuschließen und zumindest einige Lebenskraft zu sammeln. Eine der wichtigen Aufgaben im Augenblick ist es nämlich, einfach Lebenskraft zu sammeln, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche. Und das Bildungssystem hat in diesem Zusammenhang eine außerordentlich große Bedeutung.

Unser Institut lebt nach dem Prinzip Besser weniger, aber besser. Es strebt nicht danach, ein großes Institut zu sein, es strebt an, Qualität zu haben. Deshalb bedeutet das Prinzip Ein Mann allein kann das Feld behaupten für uns: Du kannst um die Gotteswahrheit kämpfen, du kannst für die Wiedergeburt des Gottesvolkes kämpfen. Und was ist die Kirche, wenn nicht das Volk Gottes? Für uns ist die Kirche in erster Linie das Volk Gottes, keine formale Organisation.

Warum bleibt denn unsere Bruderschaft informell? Nun, es gibt in ihr Strukturen, die staatlich registriert sind und auch kirchliche Anerkennung besitzen, all das, was man heutzutage so braucht. Und dennoch bleibt die Bruderschaft eine informelle Bewegung, und das ist für uns wichtig. Das heißt nicht, dass unsere Bruderschaft eine Geheimorganisation ist. Keineswegs, wir sind auch kein Geheimorden. Wir haben eine Webseite, eine Zeitung, und dort schreiben wir auch ganz offen über Externa und Interna unseres Lebens. Wir veranstalten öffentliche Konferenzen. Nein, eine informelle Organisation bedeutet eben nicht, geheim zu sein, es bedeutet, dass wir uns als Bewegung begreifen, in der Freiheit und Liebe der erste Platz gebührt. Für die Menschen, für hungrige Menschen, die oft vergessen, was Freiheit und Liebe ist, für Menschen, die diese Begriffe nur psychologisiert verstehen oder auf eine äußerliche Art, gewissermaßen objektiviert, für sie ist es sehr wichtig, dass wir diese informelle Seite behalten.

Aus diesem Grund klingt das von Ihnen geschilderte Problem bei uns natürlich anders. Ja, auch in Russland gibt es eine strukturelle Krise der kirchlichen Institution. Sie liegt nicht einfach in ethischen Problemen begründet, ihr liegen andere Fragen zu Grunde, die aber auch bekannt sind: Gerade deshalb glauben wir, dass es auch der Kirche gut täte, Reue und Buße zu üben, ebenso wie der Hierarchie, und über all das reden wir laut und freimütig. Wir verstehen, dass das einige ärgert. Es gibt immer welche, denen solche Überlegungen missfallen, sowohl im Staat als auch in der Gesellschaft und in der Kirche. Aber was bedeutet das? Nichtsdestotrotz ist es notwendig, nach dem Zeugnis des Gewissens zu leben – nicht nur für eine kleine Handvoll Menschen, sondern praktisch für alle Menschen, die sich Christus und dem Wort des Evangeliums zuwenden, und auch für jene, die in die Kirche eintreten und dabei alle Mängel der kirchlichen Struktur erkennen. Man muss sich nur bemühen, sein Leben in der Kirche so zu gestalten, das diese Mängel den Menschen keinen Schaden zufügen, dass diese negative Komponente minimiert wird und die positive maximiert. Das ist möglich – schwierig, aber möglich.

poljakova: Kommen wir noch einmal auf das heutige Russland zu sprechen. Wie sehen Sie die gegenwärtige Situation? Es entsteht der Eindruck, dass die Gesellschaft nicht einfach nur zersplittert ist – ein Allgemeinplatz, gewiss –, sondern es scheint, als hätten die Menschen keine gemeinsame Vergangenheit. Was mir persönlich in der letzten Zeit in privaten Gesprächen hier in Moskau aufgefallen ist: Es scheint fast so, als hätte man in verschiedenen Ländern gelebt. Sowohl was die Sowjetzeit anbelangt als auch bezogen auf die 1990er Jahre können sich die Menschen kaum mehr auf eine gemeinsame Beschreibung einigen. Und darüber hinaus: Sie können auch nicht ruhig darüber sprechen, stattdessen wird man laut und aggressiv. Womit hängt das zusammen? Womit verbinden Sie es? Und worin könnte hier die heilende Kraft des Christentums liegen? Was könnte man in derartigen Situationen tun, und muss man überhaupt etwas tun?

kotschetkov: Wissen Sie, während Sie mir die Frage gestellt haben, kam mir spontan die Gedichtzeile von Ossip Mandelstam in den Sinn: „Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr.“[5] Wann wurde das geschrieben? In den dreißiger Jahren, können Sie sich das vorstellen? Aber wenn man das schon damals sagen konnte, kann man es heute erst recht. Natürlich, es ist geblieben. Wohin hätte es auch verschwinden können?

poljakova: Ich habe es immer einfach im Sinne von „Angst“ verstanden.

kotschetkov: Ja, aber nicht nur das. Es kommt vor, dass einem das Land unter den Füßen wegrutscht, dass man keinen Halt mehr findet. Sie haben nach unserer Vergangenheit gefragt, aber in irgendeinem Sinn gab es damals weder Vergangenheit noch Gegenwart, noch Zukunft – es gab nichts. Es gab Dunkelheit, aber keine göttliche. Da muss man sich nicht wundern, dass die Menschen von ihren Ängsten noch nicht befreit sind, vom Misstrauen – jenem totalen Misstrauen, nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst, und gegen Gott, und überhaupt gegen alles und jeden. Man muss sich nicht wundern, weil es nicht anders sein konnte, weil die sowjetische Geschichte natürlich eine Geschichte der russischen Katastrophe ist. Hier kann man einen Vergleich mit dem Begriff des Holocausts ziehen, im Prinzip ist es ähnlich, nur in den Maßstäben eines riesigen Landes. Es ist wirklich eine anthropologische Katastrophe. Bei uns gibt es jetzt eine Menge von Menschen, die einfach mental beschädigt sind, weil es unmöglich war, in einem Land zu leben, das nach innen und nach außen unglaublich aggressiv war. Gewöhnlich kennen die Menschen nur die Außenseite und unterschätzen, was mit dem Land, mit ihrem Volk geschehen ist, und dass wir bis heute die Früchte dieser Geschichte ernten. Deshalb fällt es den Menschen bis heute ja auch so schwer, hier zu leben. Gott sei Dank, es gibt jetzt immer mehr Menschen, die sich immerhin dazu entscheiden, hier leben zu wollen, und die sich wünschen, dass ihre Kinder ebenfalls hier leben. Aber sie wollen ein menschenwürdiges Dasein haben, sie wollen nicht die Fortsetzung dessen, was es gab, oder dessen, was es jetzt gibt. Sie beginnen heute, für etwas zu kämpfen. Von daher entstehen auch jene Bewegungen, die wir in unserem Land in letzter Zeit beobachten.

poljakova: Und die Intoleranz, wie kommt es zu dieser Intoleranz untereinander?

kotschetkov: Aus demselben Geist des Misstrauens. Sie wurde doch fast ein ganzes Jahrhundert hindurch praktiziert – diese Intoleranz, diese Bosheit, diese Besessenheit, was bei Berdjajew in den Geistern der russischen Revolution[6] schon 1918 beschrieben wurde. Es war doch wirklich Besessenheit, nicht einfach nur eine temporäre Form der Geistesverwirrung, keine Folge von diesem oder jenem – etwa eine Folge des Ersten Weltkrieges oder irgendwelcher besonderer Umstände oder der Eigenschaften jener, die 1917 die Macht in Russland ergriffen haben. Nein, es war eine echte Besessenheit, und die verschwindet nicht ohne weiteres.

Christen wissen sehr gut, dass für den Kampf gegen eine solche Besessenheit eine bestimmte Kraft nötig ist, dass man eine Dämonenaustreibung, einen Exorzismen braucht. Exorzismen aber sind in erster Linie nicht ein Ritual, sondern eine Art innerer Erleuchtung, eine Reinigung, eine Aufklärung im ursprünglichen, tieferliegenden Sinn dieses Wortes. Erleuchtung, die von der Wurzel „Licht“ abstammt. „Licht“, das wir groß schreiben.

Hieraus ergeben sich sowohl Aggressivität als auch Verschlossenheit – beides sind Überreste der Angst, die nur in verschiedene Formen transformiert wurde. Von hierher stammt auch der Wunsch nach Konsum – einschließlich des geistlichen, also spirituellen Konsums in Bezug auf die Kirche. Denn diese Verbrauchermentalität existiert bei uns im Äußeren als auch im Inneren, und diese Krankheit ist die Quelle, aus der alle anderen Krankheiten gespeist werden. Das zu wissen, ist für das Verständnis der Situation in unserem Land sehr wichtig, gerade jetzt, wo wieder etwas Lebendiges aufkeimt, wo bestimmte Verbindungen gesucht werden – alle diese lebendigen Zellen, die sich im ganzen Lande gerade erst zu entwickeln beginnen, die anfangen, einander zu erkennen, die lernen, zusammen zu sein, nicht nur auf der Ebene der Toleranz, was ja auch notwendig, aber doch sehr oberflächlich ist.

Natürlich ist es ohne Toleranz unmöglich, eine Gesellschaft aufzubauen, aber Toleranz allein bleibt oberflächlich. Auf der Ebene einer internen Kommunikation ist das eine viel schwierigere Aufgabe. Eben um die Lösung dieser Aufgabe bemühen wir uns, sowohl durch das Institut als auch durch die Bruderschaft und durch alle Beziehungen mit unseren Freunden im In- und Ausland.

Aus dem Russischen von Alexander Proshilow und Holger Karlson


[1] Nach der Erinnerung von A.O. Smirnowa-Rosset, eine der nächsten Freundinnen Puschkins, hat er einmal auf die Bemerkung von Chomyakow (russischer Intellektuelle, Vertreter der s.g. Slawophilie), man finde in Russland mehr christliche Liebe als im Westen, etwas verärgert geantwortet: „Mag sein. Ich habe die Menge der brüderlichen Liebe weder in Russland noch im Westen gemessen; doch ich weiß, dass dort Gründer der Bruderschaften erschienen sind, die es bei uns nicht gibt. Sie würden uns aber sehr nützlich sein.“ (Zit. nach: Семен Франк (Semjon Frank), Этюды о Пушкине (Etüde über Puschkin), Paris, 1987, S. 105)

[2] Nikolaj Nikolaevich Neplyuev (1851 – 1908) war Theologe, Begründer der Krestowozdwizhenskoje Brüderschaft.

[3] Das Konzil 1917 – 1918  hat das Patriarchentum wiederhergestellt, das durch die Reformen des Zaren Peter I. (Anfang des 18.Jahrhunderts) in Russland abgeschafft worden war. Der Synod als höchste kirchliche Instanz war seitdem eine Art Ministerium gewesen, was immer größere Abhängigkeit der Kirche vom Staat zur Folge hatte. Das Konzil hingegen bestand aus den gewählten Vertretern des Klerus und der Laien (dies waren die ersten freien Wahlen in der Geschichte Russlands) und setzte sich das Ziel, diese Situation zu bewältigen, die Kirche von innen her zu reformieren und das kirchliche Leben zu beleben. Doch wegen schon bald einsetzenden Verfolgungen konnten die Entscheidungen des Konzils nicht durchgeführt werden.

[4] Ю.С. Кочетков (по псевдонимом Н. Герасимов, unter Pseudonym N.Gerasimov), Вхождение в Церковь и исповедание Церкви в церкви (Der Eintritt in die Kirche und Bekenntnis der Kirche in der Kirche) , in: Вестник РХД, 1979, № 128, S. 41-96.

[5] Das ist die erste Zeile des berühmten „Stalin-Epigramms“ von Ossip Mandelstam, das ihm zuerst die Freiheit und dann auch das Leben kostete. Im Mai 1934, nachdem das sechzehnzeilige Gedicht der Geheimpolizei bekannt wurde, wurde Mandelstam verhaftet, verhört, gefoltert und aus der Hauptstadt verbannt. Vier Jahre später wurde er erneut verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt. Einer der besten russischen Dichter des 20. Jahrhunderts starb in einem Transitlager am Pazifischen Ozean an Typhus. Sein Grab ist unbekannt.

[6] Николай Бердяев, Духи русской революции, in: ders., Из глyбины. Cбopник cтaтeй o pyccкoй peвoлюции (Aus der Tiefe. Aufsätze über die russische Revolution), Petrograd, 1918.